Frau W.

18. August 2011

Frau W. ist meine Nachbarin.
92 Jahre ist sie alt, und alle hat sie überlebt. Ihre Söhne, dessen Frauen, ihren so sehr geliebten Mann. Und ihren zweiten Mann den sie nie heiratete, um ihn nicht zu verlieren. Auch den überlebte sie.
Bleibt nur noch ihr einziger Enkel. Dieser Enkel hat eine unglaublich liebe Frau geheiratet, und sie bekamen zwei ganz tolle Mädchen. Leider wohnen die etwa 500 Kilometer weit entfernt und können nicht so oft zu Besuch kommen. Aber sie kommen wann immer sie können.
Selbst ich als direkte Nachbarin bin viel zu selten da. Wahrscheinlich wäre ich öfter da, wenn Frau W. Hilfe bräuchte. Aber das ist selten so.

Jeden Tag macht sie auf ihrem Sofa Gymnastik ("Die alten Knochen müßen doch beweglich bleiben!"). Morgens stellt sie sich zwei ein Liter Flaschen mit Wasser auf den Tisch, und bis zum Abend müßen beide leer sein. Sie kocht fast täglich frisch, und vor etwa 20 Jahren hat sie mit dem rauchen aufgehört ("Mein Arzt sagte, das sei wirklich gesünder..."). Immer wenn ich zu besuch bin stellt sie mir einen Aschenbecher auf den Tisch und sagt Dinge wie "Nun rauchen sie doch, Frau A!" oder "Na aber EINE können sie doch!" Sie guckt dann immer ganz verschmitzt, aber den Gefallen hab ich ihr noch nie getan.
Sie geht auch allein einkaufen. An drei aufeinanderfolgenden Tagen macht sie sich auf den Weg zum nahegelegenen Edeka, immer einen Regenschirm in der Hand ("Sooo alt bin ich nicht, daß ich einen Krückstock benutzen muß!"). Zurück fährt sie dann eine Station mit dem Bus, oder sie ruft sich ein Taxi. Am ersten Tag kocht sie sich Kartoffeln mit Butter. Am zweiten Tag gibt es einfach gebratenes Gemüse. Am dritten und am vierten Tag wenn sie nun alles eingekauft hat... dann gibt es Fleisch, Kartoffeln, Gemüse und Soße und Eis zum Nachtisch. Freitags besucht sie eine Freundin im nicht weit entfernten Seniorenheim und isst dort mit ihr zu Mittag. Samstags und Sonntags gibt es Brot und Käse und Kekse mit Milch.
Ich mag Frau W. sehr. Sie strahlt Ruhe aus und ist fast immer gut gelaunt. Ihre weißen krausen Haare bindet sie immer zu einem Zopf und verziert den dann noch mit einer hübschen Haarspange. Sie riecht überhaupt gar nicht nach alter Frau, sie ist schlank und kleidet sich immer ansprechend. Und so sitzt sie dann immer da und strahlt mit ihren tiefblauen Augen. Wenn ich da bin, kocht sie immer Kaffee und ich bringe Kuchen mit.

Wir unterhalten uns oft stundenlang. Aber Geschichten von "Hach... Damals..." gibt es nicht. Wir unterhalten uns übers Internet, über Musik, sie singt phonetisch etwas von Pink vor (die mag sie so, kann aber kaum englisch), über Politik, Kinder von heute, Verhütung, Beziehungen und über alles andere sonst auch. Es gibt kein Thema, das nicht ausgesprochen wird. Es ist immer schön bei ihr. Frau W. hat einen ganz tollen intelligenten und umfangreichen Humor, den sie bei jeder Gelegenheit anbringt. Bei jedem Gespräch muß ich mindestens einmal lachen oder wenigstens schmunzeln.

Immer wenn so ein Kaffee-Kuchen Nachmittag vorbei ist, hab ich irgendwas tolles mitgenommen. Einen weisen Spruch, eine Anregung für einen anderen Blickwinkel, eine interessante Situationseinschätzung oder einfach nur ein gutes Gefühl.

Neulich fragte sie mich nach meiner Arbeit und den Kollegen. Ich erzählte ihr so einiges und auch von den zwischenmenschlichen Schwierigkeiten die gerade aktuell dort auftreten. Sie hörte aufmerksam zu, nahm beschriebene Situationen aus dem Kontext, setzte sie in andere Lebenssituationen ein und sagte "Es ist doch immer wieder das gleiche. Ich will nicht sagen, daß man sich anpassen muß und klein sein soll. Aber solche Konflikte hat man mit vielen Menschen. Mit den einen kann man sie lösen, mit den anderen nicht. Und wer gesund denkt und handelt weiß, daß er im Recht ist. Was soll man die dummen Menschen bekehren? Wer nicht klug sein will, der soll es auch nicht. Da macht man einfach mit seinen Dingen weiter, und der andere kann ja nachkommen wenn er mag. Und wenn nicht, dann halt nicht. Und so ist der Konflikt dann Vergangenheit. Man macht es einfach besser. Wenn der andere sich noch weiter aufregen will, soll er es tun. Was man in einem solchen Fall tut, lässt sich mit einem Wort beschreiben: Man schweigt und genießt seine eigene Klugheit!" Dann hat sie ganz herzlich und laut gelacht und sich vor lauter Höflichkeit eine Hand vor den lachenden Mund gehalten. Die andere Hand schlug den Tisch, und alles schepperte und bebte. Ich mußte einfach mitlachen. Sie gackerte "Das war viel mehr als ein Wort, aber ich habe Recht!!!" Jetzt mußte ich noch mehr lachen.

Frau W. ist wirklich toll, und ich lerne viel von ihr. Auch wenn ihr diese Rolle nicht ganz gefällt, sie weiß darum.
Sollte es mir vergönnt sein ein solches Alter mit einer solchen Verfassung zu erreichen, will ich mir genügend Humor, Hirn, Tiefe und Ruhe bewahrt haben, um so cool dasitzen zu können und noch "alle beisammen zu haben".


Nachtrag: Frau W. taucht auch in DIESEM POST auf :)

 
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