Zug fahren

21. März 2011

In regelmäßig unregelmäßigen Abständen fahre ich mit dem Zug von Lüneburg nach Kiel und ein paar Tage später wieder zurück.
Meistens läuft das so:
Ich kaufe mir in Lüneburg eine Fahrkarte nach Hamburg für siebeneurosoundsovielsechzig. Dann steige ich in Hamburg aus, stelle mich an einen bestimmten Fahrkartenautomaten und werde nach ungefähr zwei Sekunden von jemandem etwa so angesprochen: "Fährssu Kiel!? Ischab Blatz frei." Dann sag ich "Oh ja, gerne." Der meist männliche Akteur in dieser Geschichte spricht noch drei weitere reisende an, und man geht dann zu fünft zum Zug. Man sitzt dann da und hofft, daß man sich nicht mit kuriosen Leuten unterhalten muß und tut unbeteiligt. Irgendwann während der Fahrt sammelt der Mann dann von jedem Mitfahrer acht Euro ein und freut sich. Er hat am Morgen ein "Schleswig-Holstein-Ticket" für 38 Euro gekauft und fährt nun den ganzen Tag lang so wie eben beschrieben von Hamburg nach Kiel und zurück. Eine Rechenaufgabe. Wenn er nun vier mal nach Kiel fährt hat er am Ende 256 Euro. Abzüglich der Karte hat er einen Gewinn von 218 Euro.
Auch so kann man sich seine Brötchen verdienen.
In Kiel fahre ich dann noch mit dem Bus weiter und habe für etwa 17 Euro mein Ziel erreicht. Ich weiß gar nicht mehr wie teuer so eine Einzelkarte von Lüneburg nach Kiel eigentlich ist. Es müssten so um die 28 Euro sein. Also freue ich mich auch, denn ich habe 11 Euro gespart.

An diesem Wochenende war allerdings alles anders.
Der Zug kam in Hamburg etwas verspätet an, und niemand sprach mich an. Ich fürchtete schon, daß ich den vollen Preis zahlen müsste. Gerade wollte ich die Karte kaufen, als ein grimmig guckender "Nico" daherkam und sagte "Ich hab einen Schwerbehindertenausweis B, und Du kannst als Begleitperson mitfahren!"
Und ich dachte "HUAH! ACHDUMEINEGÜTE!", sagte aber "Hm... Zeigst Du mir den Ausweis? ... Ok, gerne. Wieviel willst Du haben?"
Nico: "10!"
Ich: "10? Nö! Mit einem Schleswig-Holstein-Ticket würde ich höchstens 8 zahlen."
Nico: "Das ist kein Schleswig-Holstein-Ticket. 10!"
Ich: "Ich weiß. Aber... Nein danke. Ich such mir hier dann lieber noch Leute zusammen."
Nico: "Nagut. 8 und ne Zigarette."
Tja. So gab ich eine Zigarette her und trottete dem noch grimmiger guckenden Nico hinterher. Er wollte unbedingt ganz hinten im Fahrradabteil sitzen. Mir war das egal. Ich wollte jetzt nur schnell in Kiel ankommen.
In diesem Fahrradabteil saß ein Mädchen mit einer Gitarre. Ok. Sie ist kein Mädchen. Eher eine junge Frau. Aber wie sie da saß... Ein dick gepackter Rucksack aus dem ein Apfel guckte, eine Flasche Weißwein zu ihren Füßen, die feinen frisch gewaschenen Haare zu einem Knoten gebunden, ein reines ungeschminktes Gesicht dessen Augen wahrscheinlich schon viel gesehen haben. Da saß sie mit ihrer Gitarre auf dem Schoß und spielte und sang. Sie sang davon, daß das Leben manchmal komische Wege geht, und daß auch sie weiterziehen muß. Ihre Stimme klang, als ob sie noch viel lauter und gefühlvoller klingen könnte. Es klang in meinen Ohren großartig. Aber sie wurde unsicherer, je mehr Leute ins Abteil kamen. Sie hörte auf zu spielen und sagte, daß sie dachte hier hinten fast allein zu sein. Sie wüsste jetzt nicht, was sie spielen sollte.
Tja. ... Ich holte aus meinem Rucksack mein "Blackbook". Mein Blackbook ist eine unordentliche Sammlung von Texten und Akkorden von Liedern verschiedenster Art. Es stehen in hübschester Kalligrapierter Schrift Texte drin, es gibt gezeichnete Bilder, und überall stecken handgekritzelte Zettel und ausgedruckte Blätter drin. Man muß es vorsichtig halten, weil sonst alles der Schwerkraft zum Opfer fällt und sich auf dem Fußboden verteilt. Ich reichte es ihr feierlich und sagte, daß sie mal gucken soll, ob ihr davon was gefällt. Sie war überrascht und blätterte alles durch. Schnell stellte sie fest, daß sie kaum etwas davon kennt. Also vielleicht, aber sie wüsste jetzt nicht... So gab sie Gitarre und Buch an mich und wünschte sich Lieder. Wir unterhielten uns, sie spielte mir was vor, ich zeigte ihr ein anderes Lied, sie sang, ich hörte, Nico lächelte. Die vielen Leute die entweder verzückt stehen blieben oder genervt das Abteil verließen störten überhaupt gar nicht. Nach gefühlten fünf Minuten waren wir dann in Kiel.
Was für eine tolle Fahrt.

♥ Und was für ein tolles Wochenende.
Es gab Entspannung, einen schönen Mann, drei wunderschöne Katzen, viel Schlaf, eine Badewanne, vorzügliches Essen, einen Fernseher, einen Gamecube, hab ich den schönen Mann erwähnt? ♥
Und leider gab es auch die Zeit, denn ich musste zurück nach Hause.

So eine Rückfahrt läuft im Normalfall ebenso, wie es oben geschrieben steht. Und so kam es auch.
Fast.
... zu sechst (?) stiegen wir in den Zug, und ich bemerkte jetzt erst, daß wir eine Person zuviel dabei haben. Der Mann mit der Fahrkarte verkündete, daß er diese Fahrt nicht mehr mitmacht, er würde uns das Ticket geben. Falls noch jemand weiterfahren wollte, es ist ein "Schönes Wochenend Ticket". Mit diesem Ticket kann man für 39 Euro mit fünf Personen an Samstagen oder Sonntagen durch ganz Deutschland fahren.
Eine junge Frau sagte, sie müsse nach Hannover. Dafür muß sie durch Lüneburg fahren. Was für ein Glück! Der Mann sammelte von jedem acht Euro ein, freute sich, wünschte eine gute Reise und ging.
Die Frau und ich saßen zusammen und quatschten. Ja, wir haben wirklich gequatscht. Die ganze Fahrt über! Eine sehr angenehme Person und eine sehr angenehme Rückfahrt.

Zug fahren kann so schön sein.

 
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